Freitag, 22.12; kurz nach Mitternacht
Die wehen beginnen, oder zumindest glauben wir das, denn ich weiß nicht wirklich, wie sich das genau anfühlt. Ich hatte zwar die letzten zwei Abende immer wieder einen harten Bauch und menstruationsähnliche Beschwerden, aber das war nicht weiter schlimm und angesichts der unter schiedlichen Spannungsgefühle und anderen körperlichen Befindlichkeiten während der Schwangerschaft, regte es mich nicht besonders auf. Außerdem habe ich in einem meiner schlauen Bücher gelesen, dass diese Art von Vorwehen über einen längeren Zeitraum auftauchen und wieder verschwinden können.
Ich bin also total überrascht, als plötzlich die Wehen in 7 und meistens sogar in 5 Minuten Abständen losgehen. Das irritiert mich sogar dermaßen, dass ich nicht einmal sicher bin ob ich dich anrufen soll.
Martin und ich sind aufgeregt und schauen uns an – geht es jetzt wirklich los? Hat das Warten ein Ende? Wir scherzen und lachen, weil wir es einerseits nicht wirklich glauben können und andererseits schon ein bisschen Nervosität aufkommt, die durch unser Lachen etwas entschärft wird.
Ich gebe mir einen Ruck und rufe dich an. Sofort bin ich beruhigt, als ich deine Stimme höre. Deine Antwort auf meine Beschreibungen – es sind entweder wirklich noch Senkwehen, die wieder vergehen, oder es geht wirklich los, dann soll ich dich wieder anrufen, wenn die Abstände kürzer sind. Ich denke mir wie viel kürzer die Abstände noch werden sollen – und was, wenn dann plötzlich das Kind kommt??? Aber mein Verstand sagt mir, dass du schon weißt was du tust und mein Vertrauen zu dir ist grenzenlos. Also leg ich mich wieder hin und versuche noch etwas zu schlafen. Martin gelingt es noch ein bisschen einzunicken, doch bei mir geht es nicht mehr. Von Anfang an muss ich bei jeder Wehe aufhocken, weil ich es im Liegen nicht aushalte.
Kurz vor vier Uhr kann ich nicht mehr im Bett bleiben und setzte mich in die Küche. Ich halte es ein paar Wehen lang durch – abwechselnd auf dem Sessel oder auf dem Küchenboden hockend – dann hab ich genug von der mir selbst auferlegten Einsamkeit, wecke Martin und rufe dich an. DU KOMMST – wie beruhigend. Martin heizt den Ofen ein und räuchert vorübergehend unsere Wohnung ein, da das Rohr noch heiß ist und es nicht richtig anbrennen will.
Sobald du da bist, stellt sich eine wunderbar fliesende Dynamik ein und alles scheint wie von allein voranzugehen. Meine Wehen kommen regelmäßig und unaufhörlich, du und Martin bereiten alles vor. Nachdem du meinen Muttermund untersucht hast, ziehst du dich, mit dem dir eigenen Einfühlungsvermögen in jeder Situation das Richtige zu tun, noch für einige Zeit in das Gästezimmer zurück.
Martin und ich sind alleine und verfallen in einen ganz eigenen Rhythmus – von Wehe zu Wehe. Die meiste Zeit verbringe ich auf dem Ball sitzend und schaue ins Feuer, währenddessen langsam die Sonne aufgeht und sich ein wunderschöner klarer Wintertag ankündigt. Meine Schwiegermutter kommt vorbei und wünscht mir alles Gute. Es ist ihr anzusehen wie schwer es ihr fällt das Haus zu verlassen.
Die Wehen werden heftiger und ich bekomme langsam eine Vorstellung davon, was mir noch alles bevorsteht. Um 8Uhr 30 kommst du und untersuchst noch einmal meinen Muttermund, der sich in den letzten Stunden nur um 1-2 cm geöffnet hat. Mir ist es egal, denn es geht sowieso alles seinen Lauf – die Wehen kommen unaufhörlich und ich werde früher oder später unser Kind gebären, ob ich will oder nicht, das ist der natürliche Weg und allem anderen untergeordnet. Mit aller Macht spüre ich die Kraft der Wehen und das Gefühl ausgeliefert zu sein. Wann immer ich an die Geburt dachte, habe ich mich am meisten vor dieser Unaufhaltsamkeit gefürchtet – nun war ich mitten drin.
Ich bin unendlich dankbar, dass ich zu Hause bin und nicht im Krankenhaus. Allein das Untersuchen des Muttermundes ist für mich eine Qual, weil ich mich dafür hinlegen muss. Aber du gehst dabei so einfühlsam vor und untersuchst mich vor allem auch nicht zu oft, sodass ich es gut aushalten kann.
Du und Martin seid ständig da und lest mir alle Wünsche im wahrsten Sinn des Wortes von den Augen ab. Ihr erratet, was ich will und was nicht. Ihr berührt, massiert und haltet mich, wenn ich es brauche, oder sitzt einfach nur da und wartet ab. Martin entwickelt eine Intuition bezüglich meiner Wünsche, die mich außerordentlich erstaunt und sehr glücklich macht.
Du bietest mir die Badewanne an, die ich ursprünglich nicht wollte, aber mit dem einfachen Trick das Badezimmer regelmäßig zu lüften wird es für mich zur perfekten Entspannung und verkürzt mir zusätzlich die Dauer der Wehen. Nach der Badewanne wird es wirklich heftig. Abwechselnd versuche ich zu hocken, den Vierfüßlerstand, den Ball und auch rittlings auf einem Stuhl zu sitzen.
Bei jeder Wehe denke ich, dass ich es fast nicht mehr aushalte, dass ich sicher nicht mehr so dumm sein werde noch einmal ein Kind zu bekommen…… jedes Mal kommt aber wieder eine Pause und ich kann wieder überschnaufen….. und so schreitet unsere Geburt voran. Zu diesem Zeitpunkt öffnen sich die letzten Zentimeter de Muttermundes.
Plötzlich sagst du es sei Zeit zum Mitschieben, wir sind in der letzten Phase der Geburt angelangt und ich kann mich auf den Gebärhocker setzen.
Martin sitzt hinter mir und hält mich und du kniest vor mir, motivierst mich und hältst mir kontinuierlich warme Kompressen auf den Damm, die ich dringend brauche, da ich ohne sie, das Gefühl habe, nicht zu wissen wo ich hin pressen soll. Sie geben mir Halt und Sicherheit. Wir drei bilden einen magischen Kreis und jedes Mal wenn du oder Martin in die Küche gehen um heißes Wasser zu holen, will ich am liebsten die nächste Presswehe unterdrücken, weil ich euch beide brauche um die Wehe gut zu überstehen. Was da über mich hereinbricht, sind Naturgewalten, die mich hinwegfegen in unvorstellbare Dimensionen. Ich bin müde und erschöpft, meine Beine zittern und ich fühle mich unendlich klein, unser Kind noch winziger, und beide sind wir dem unendlichen Universum ausgeliefert.
Du sagst zu mir es dauert noch 2 bis 3 Wehen, bei der zweiten Wehe, ganz am Ende, ich denke mir es geht sich noch immer nicht aus, ist sie plötzlich da, unsere kleine Anna –unser einzigartiges, wunderbares Mädchen, unser wesen vom anderen Stern. Da ich es nicht mehr wirklich gespürt habe, wie sie aus mir raus kam, denke ich, als ich sie zum ersten Mal sehe, sie ist vom Himmel gefallen. Wir sind in sie verliebt von der ersten Sekunde an. Gemeinsam haben wir sie auf diese Welt gebracht!!!
Im Raum schweben ein einzigartiger Zauber und eine unglaubliche Energie. Wir sind glücklich, wie noch nie in unserem Leben.
Du bleibst noch bis zum Abend und versprichst die nächsten Tage täglich vorbeizukommen.
Nie werden wir vergessen, dass du uns diese Hausgeburt, dieses wunderbare, einmalige und unvergleichliche Erlebnis möglich gemacht hast. Du wirst immer mit dem Leben von Anna verbunden sein.
Danke!